Text aus: „Der Sommer Berger Garten >Im Heiligen>“, Edition FIU Amorbach, 2010


Betritt der Wanderer, von der Erdterrasse vor der Grotte kommend, nun wieder den östlich angrenzenden Waldsaum, so gelangt er auf einem schräg hinabführenden Pfad zur zweiten Installation von Anna Tretter in diesem Garten. Die Künstlerin hat in einiger Höhe zwei metallene Flachspiegel, vis-a-vis an den schlanken Stämmen zweier Eichen befestigt. Es ist eine raffinierte Konstruktion, um sich selbst, von einer erhöhten Position herabblickend, beim Versuch zu Fliegen, zuzusehen. Dem Topos des Flugs, dem man ja bereits in der Inschrift auf der Steinbank am Aussichtspunkt, oberhalb der Grotte begegnet war, diesem Topos kann man sich unter Einsatz des eigenen Körpers, gewissermaßen übend, in Anna Tretters Konstruktion hier weiter annähern.

    »Die Bewegung kommt zustande durch eine Provokation, durch eine Einweihung, durch eine Initiation zum Zwecke der Bewegung. Man ruft etwas hervor, das Bewegungsprinzip selbst.« 39

Man stelle sich dazu auf die durch ein eingemeißeltes »H« markierte Steinplatte am Weg unter den Spiegeln. Nun richte man den Körper talwärts, hebe beide Arme wie Vogelflügel an und bewege sie rhythmisch auf und ab, dabei schaue man hinauf in den kleineren talseitigen Spiegel und erblickt darin sich selbst von oben, über den größeren Spiegel im Rücken. Ganz wie Ikarus scheint man durch die Luft zu fliegen. Nun geht diese Spiegelkonstruktion gleichwohl gar nicht auf den Erfinder des menschlichen Fluges, auf den griechischen Bildhauer Dædalus [‚kunstreich’] zurück, der ja bekanntlich für sich und seinen Sohn Ikarus aus Federn und Bienenwachs Flügel fertigte, um damit aus jenem, von ihm selbst erbauten Labyrinth des Minotaurus zu entkommen. Die Spiegelkonstruktion hier »Im Heiligen«, orientiert sich vielmehr an der »Propositio XV«desHeron von Alexandia. Dieser griechische Physiker, der im ersten Jahrhundert unserer Zeit gewirkt haben soll, anderen Angaben zufolge, lebte er bereits zweihundert Jahre früher, verfasste Schriften über Mechanik, Pneumatik und Vermessungskunde, sowie unter anderem, eine Beschreibung von Automatentheatern. Seine »Mechanik« beruht im theoretischen Teil auf heute verlorenen Schriften des griechischen Mathematikers Archimedes, etwa der »Heronschen Dreiecksformel«des Archimedes. Zu seiner Konstruktion mit Flachspiegeln, die ‚fliegende Menschen’ zeigt, schieb er: »Es ist ein gleichseitiges Dreieck abg, und es wird auf der Basis bg durch t in zwei gleiche Teile geteilt. Ein flacher Spiegel zh wird auf ag befestigt, ein weiterer flacher Spiegel ed auf ab. Das Auge des Zuschauers, der auf t steht, sieht in einen der beiden Spiegel. Derjenige, in den er hineinsieht, bleibt unbewegt, während der andere, der sich hinter ihm befindet, angehoben oder gesenkt wird, bis seine Reflexionsstrahlen die Absätze des Zuschauers erreichen (k). Dieser wird nun glauben, er fliege.« [Propositio XV]40 Die Bewegung der Spiegel hat Anna Tretter bei ihrer Installation der natürlichen Bewegung der Bäume selbst überlassen. Im späten Mittelalter und in der Renaissance wurde die Heronsche Konstruktionsanleitung wiederholt herangezogen:

    »Es ist möglich, aus einer Zusammenstellung von flachen Spiegeln einen Spiegel zu konstruieren, in dem man sein schwebendes Bild sieht«, schrieb etwa Vitellius um 1270. Ein faustischer Charakter, wie der Arzt, Astrologe und Mystiker Agrippa von Nettersheim (1486 - 1535), erkannte Dämonen in den fliegenden Gestalten. Der italienische Philosoph, Arzt und Mathematiker Geronimo Cordano (1501 - 1576), der das Verfahren um 1550 Punkt für Punkt erläutert, verglich die fliegenden Menschen dagegen mit Vögeln.«  40



39  Joseph Beuys zitiert nach Friedhelm Mennekes: »Joseph Beuys MANRESA. eine Aktion als geistliche Übung zu Ignatius von Loyola« Frankfurt am Main und Leipzig 1992, S. 65

40   Jurgis Baltrušaitis »Der Spiegel – Entdeckungen, Täuschungen, Phantasien« 2. Aufl. Anabas, Giessen 1996, S. 251 f., nach der französischen Originalausgabe »essai sur une légende scientifique Le miroir – revelations, science-fiction et fallacies« Editions du Seuil, Paris 1978.


Textauszug: U We Claus „Der Sommer Berger Garten >Im Heiligen>“, Edition FIU Amorbach, 2010