Pressebericht in art, Das Kunstmagazin, zur Ausstellung RAUMBILDER, Galerie der Stadt Kornwestheim, 1994

Anna Tretter - Raumbilder

 
Für den Ausstellungssaal der von Josef Kleihues erbauten Galerie der Stadt entwarf die 37 Jahre alte Bildhauerin ein Ensemble aus Wandarbeiten und wandbezogenen Objekten »Ausstellung und Gehäuse bilden eine ästhetische Einheit. Ich habe durch diese Arbeit das Haus besser begriffen«, schwärmt Jens Kräubig, seit Frühjahr 1993 Leiter der Galerie der Stadt Kornwestheim, über die außergewöhnliche Raumgestaltung von Anna Tretter. Mit minimalen Mitteln – als plastisches Material dienten Stellwände aus dem Depot – macht sich die Künstlerin an ihre komplexe Untersuchung des Raumes: Ausgehend von den Eigenheiten der vorgegebenen Architektur, wirft die siebenteilige Installation grundsätzliche Fragen auf zum Verhältnis von Raum und Fläche, Körper und Bild, aber auch zur Raumwahrnehmung des Besuchers. Außerdem richtet sie das Augenmerk auf Phänomene, die – so Anna Tretter - »man nicht in den Griff kriegt, an denen man nur arbeiten kann«.
Anna Tretter studierte 1975 bis 1978 ganz traditionell an der Holzbildhauerschule in Bischofsheim/Rhön; es folgen Studien bei Rudolf Hoflehner an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart und bei Karl Fred Dahmen an der Akademie der Bildenden Künste in München. 1985 wurde Anna Tretter dort Meisterschülerin von Hans Baschang. Seit 1988 macht sie ihre raumbezogenen Arbeiten: Zuerst stellte sie in der Maschinen- und Zahnradfabrik Carl Hurth, München, die »Wandarbeit I-V« auf; für die Firma TRW Daut & Rietz, Nürnberg, fertigte sie ein Stahlrelief, es folgten weitere Aufträge für die Stuttgarter Versicherung und den .Rheinischen Merkur in Bonn.
Im langgestreckten Ausstellungssaal der 1990 eröffneten Galerie am Kornwestheimer Marktplatz, den der Berliner Architekt  Josef Paul Kleihues im Grundriß zu einem Parallelogramm verschoben hat, fand die Künstlerin einen Raum vor, in dem es nur beinahe rechte Winkel (84 und 96 Grad) gibt. Diese Abweichungen vom Standard machte sie zum Leitmotiv ihrer Objekte.
Als erste Orientierung für das Spiel mit den Schrägen schrieb sie dem Raum der rechten Winkel ein: in 90 Grad zur Marktplatzseite mit dem Eingang parallel zur Außenwand des Galeriegebäudes, führt eine rote Richtschnur diagonal durch den Raum. So entsteht ein – nur angedeutetes – Rechteck; auf die Spannung zwischen ihm und der tatsächlichen Schräglage des Saals beziehen sich alle Arbeiten der Installation.
Neben dem Zuschnitt des Raumes, wie er etwa in den »Raumbildern« I und V aufgegriffen wird, reflektiert Anna Tretter in ihrem an den Wänden entlanglaufenden Bild-Plastik-Programm auch die anderen Merkmale der Kleihues-Architektur: ein spitz in den Raum ragender Spiegel etwa antwortet auf die Form der schräg gegenüberliegenden Aufsichtskabine, die der Architekt als plastisches Element in den Saal gefügt hat. Zwei eingestellte Pfeiler und zwei Pilaster beschwören – quer durch den Raum aufeinanderbezogen – ein kaum wahrnehmbares, dreieckiges Raumsegment.
Anna Tretter psychologisiere oder intimisiere den Raum nicht, schreibt Jens Kräubig in seiner Dokumentation zur Ausstellung - »sie schematisiert ihn als ein Gegebenes und versucht, ihn zu übersteigen. Sie versucht, hinter die gegenständlichen Vorstellungen vom Raum zu kommen, hinter „unseren“ Raum. Neben dem >wissenschaftlichen< Raum ... gibt es den empirischen Raum, den erlebten, >perspektivisch< auf ein Ich bezogenen und von ihm gefärbten Raum«, bemerkt Kräubig weiter - »Innen und außen, nah und fern, oben und unten, vorne und hinten, rechts und links, Gerade und Schräge werden von uns als qualitative Differenzen von hoher Bedeutung erfahren.«.
Bestrichen mit sulfidhaltiger Farbe, die Licht auftankt und speichert, leuchtet dieser Raum im Raum – wie auch andere Teile der Installation im Dunkeln. An die Stelle der realen Architektur treten gelblich glimmende Licht-Erscheinungen. Sie bezeichnen den vorerst letzten Schritt der langjährigen, zwischen Farbe und Körper changierenden Untersuchungen Anna Tretter s. Ausgehend von präzisen, konstruktiven Formen, stellt die Künstlerin architektonische und plastische Gegebenheiten in Frage und erforscht so das Unregelmäßige im Regelmäßigen, das aus dem Bestimmten erwachsende Unbestimmte.
                  
Ruth Händler, art, Das Kunstmagazin, 1/94, S. 76-77
Zur Ausstellung Raumbilder erschien ein Katalog mit einem Text von Jens Kräubig »RECHTER WINKEL UND NICHT GANZ RECHTER WINKEL –
NOTIZEN ZU ANNA TRETTERS »RAUMBILDERN« UND DER ARCHITEKTUR DES SCHRÄGEN«