Katalogtext Anna Tretter Konjunktiva Eine Raumarbeit, Huberte Goote Gallery, Zug (CH), 1996

Der Hinterhalt der Objektivität

>Der ebene Spiegel wirft die von einem Gegenstand auf ihn einfallenden Lichtstrahlen so zurück, dass ein gleich grosses, virtuelles Bild des Gegenstandes entsteht....<

Den traditionellen Techniken der Abbildung, den >Apparaten<, die visuellen Gesetzmässigkeiten gehorchen, einer Kamera, einem Spiegel etwa, trauen wir ein objektives Bild der von ihnen reproduzierten Wirklichkeit zu. (Nur Geister haben kein Spiegelbild). Neuerdings aber geraten die Kriterien Wahrheit, Objektivität, Wirklichkeit zusehens in Bedrängnis: Virtuelle Realitäten, Computeranimationen, digitale Bildverarbeitung – Anschauung und Glauben lösen sich voneinander. Anna Tretter setzt für ihre Installation in der Huberte Goote Gallery gleich unterschiedliche >Apparate< der Objektivität ein: den gebauten Raum, die Spiegel, ein von einer Videokamera aufgezeichnetes und in den Galerieraum projiziertes Bild. Eine Ausstellung?

In Anna Tretters Ausstellung begegnen wir keinen erkennbaren, ausgestellten, hinzugefügten, kunstformulierenden Werken: 3 Spiegel und die Projektion eines Bildes der Seeoberfläche des nahen Zuger Sees sind die einzigen Eingriffe, die die Künstlerin in die vorhandene Galeriesituation gesetzt hat. Die Räume der Huberte Goote Gallery sind mit einer reduzierten und Fragen des Raumes und einer Ausstellung zugleich anschaulich und begrifflich behandelnden Installation in Szene gesetzt. Ausgangspunkte für ihre Eingriffe sind der Galerieraum als architektonischer und plastischer Körper und eine Ähnlichkeit, die die Künstlerin zwischen dem Grundriss der Galerie und der Binnenform des Zuger Sees wahrgenommen hat. Wir sehen in der Ausstellung also uns, den Galerieraum, die Spiegelung des Aussenraums und ein abstraktes, weil ausschnitthaftes Bild.

Anna Tretter wählt den Titel >Konjunktiva< für ihre Installation und führt ihn uns in seinen Bedeutungen gleich mehrfach anschaulich vor Augen: als gespiegelte und projizierte Verbindung vom Aussenraum in den Innenraum der Galerie, als Möglichkeitsform einer Ausstellung, in dem sie das Ereignis der Ausstellung in den Köpfen und Erfahrungen des Publikums plaziert und bezüglich der Anforderung, die an das Publikum gestellt wird: Konjunktiva bedeutet auch Bindehaut des Auges, der Ort visueller Wahrnehmungen per se. Verbindungen, Möglichkeiten, Wahrnehmungen... Die Künstlerin, deren Arbeiten in der konstruktiv, minimalistischen Tradition stehen, arbeitet seit einigen Jahren vermehrt im Medium der Installation. Hier setzt sie für ihre Arbeit grundlegende Themen wie die Spannungsfelder von Zweidimensionalität und Dreidimensionalität, Illusion und Wirklichkeit, Rationalität und Emotionalität über form- und materialanalytische Vorgehensweisen in reduzierte >Raumbilder< um. Mit ihren Raumarbeiten steht die Künstlerin besonders dem Ansatz der Minimal Art nahe, die Plastik nicht als umgehbares, bewegliches Objekt sondern als >Ort< versteht: Das Kunstwerk als Schaffen einer räumlichen Wirklichkeit, einer begehbaren und erlebbaren Situation.

Anna Tretter geht für ihre Raumbilder jeweils von einer genauen Analyse der gegebenen Architektur aus, sowohl morphologischer wie wahrnehmungspsychologischer Art. Der empirische Raum wird von ihr auf seine Bedingungen als Erfahrungsraum hin untersucht. In Modellsituationen entwickelt sie Strategien und Setzungen, wie sie den Raum als plastischen Körper mit Gebrauchsmaterialien im DIN Format, Spiegelflächen, Stellwänden etc. identifizieren kann, um ihn, wie in dieser Installation, tautologisch zu benennen (und damit in sich selbst zurückzubeugen) und ihn in seinen dreidimensionalen Eigenschaften zu kippen. Die Verwendung von Spiegeln in ihren Installationen erscheint als konsequente Fortsetzung eines anderen Materials der Künstlerin, der lichtreflektierenden Phosphorfarbe, mit der sie in anderen Arbeiten plastische Körper visuell entmaterialisiert oder Räume sich selbst „zeichnen“ lässt. In einigen früheren Raumarbeiten setzt sie diese Farbe zugleich mit Spiegeln als Markierungen und Verwirrungen der Raumeigenschaften ein: Phosphore (1992), Hagenbucher, Heilbronn oder in Raumbildern, die sie 1993 für die Galerie der Stadt Kornwestheim und 1994 für FOE 156 in München realisiert hat. Ein Ausblick auf eine geplante Raumarbeit zeigt die Stringenz ihrer Strategie: die Künstlerin wird über einen Zeitraum von 5 Jahren einen geschlossenen Raum sich selbst abbilden lassen, indem sie lichtempfindliche Elemente auslegt, auf denen sich die spezifischen Lichtverhältnisse des Raumes, Licht und Schatten, als Spur zeigen, der Raum sich selbst präsentiert. Der Spiegel als Reflektor wirkt auf ähnliche Weise: der Raum zeigt sich selbst, wird zum zweidimensionalen Bild, zur Oberfläche und überführt sich in seine eigene Inversion. Seine körperlichen Eigenschaften erscheinen transparent und sind gleichzeitig vervielfacht. Tatsächlichkeit, Bild und Auflösung des Raumes überlagern sich und die gegebene Architektur wird durch die Intervention der Künstlerin zu einem Raum der Leerstellung für die produktive Leistung des Publikums.

Wichtigstes Element der Installation für die Huberte Goote Gallery sind die Zeit und die Veränderung als konstituierende Komponenten. Die Ausstellung wird zum Ereignis, das die Begegnung von Körpern, Bildern und Selbstbildern beschreibt. Das Bild der Seeoberfläche in der Realzeitübertragung, die Bewegungen des Sees und die Bewegungen des Publikums konstituieren die Realität der Ausstellung als Spiegelung, Projektion, Virtualität... Um die Ausstellung zu sehen, muss man am Ort des Schauens verweilen. Aber was ist real? Denn auch wenn man nicht „sieht“ ist man im Bild, ist ein Bild der Ausstellung.

Spiegelung, Interpretation, Projektion ist das Begriffsumfeld, das die Künstlerin auffächert: Spiegelungen und Projektion führen uns den Raum, die Ausstellung und uns selbst in der ganzen Spannbreite etymologischer Spiegelbedeutungen vor Augen: glänzender Widerschein, virtuelle Vortäuschung, Spektakel und Schaulust und Spekulation als Ins- Auge-fassen und Mutmassung zugleich. Mit den Spiegelungen der Ausstellung werden der Mythos des Narziss, Platons Höhlengleichnis und zugleich Gesetze perspektivischer Wahrnehmung evoziert. Der Ausstellungsraum ist wirklich, die Ausstellung ist wirklich – ein Hinterhalt der Objektivität.

Beatrix Ruf, Kunsthalle Zürich, Katalogtext: Anna Tretter Konjunktiva Eine Raumarbeit, Huberte Goote Gallery, Zug (CH), 1996