Katalogtext zur permanenten Rauminstallation im Regierungspräsidium Stuttgart, 1997

 

 

Wie häufig in ihrem Werk greift Anna Tretter in den drei Arbeiten für Flur und Pausenraum im Zwischengeschoß des Regierungspräsidiums auf bereits vorhandene Raumstrukturen zurück, die erst durch den gezielten künstlerischen Eingriff in ihrer raumkonstituierenden Funktion wahrgenommen werden: Die räumlchen Gegebenheiten bedingen die künstlerische Konzeption.

So wurden auf die vom jeweiligen Flurende aus sichtbaren Seiten der Feuertüren, die als Riegel-Elemente den langen Trakt in der Mitte untergliedern, vergrößerte Reproduktionen nach Photographien angebracht, welche die Künstlerin aus dem vierten Stock aufgenommen hat. Sie zeigen die Ansichten der Schmalseiten des dortigen Flurs. Im Unterschied zum Zwischengeschoß weisen sie Fenster auf, die den Blick auf das wenig attraktive Weichbild der Stadt freigeben. Ein bei dieser Einfügung naheliegender trompe-l'oeil-Effekt ist offensichtlich nicht beabsichtigt, da die auf den Bildern festgehaltene Situation in Perspektive und Dimension vom realen Umraum abweicht. Zudem geben Rasterung, irisierende Partien und nicht zuletzt starke Belichtungskontraste die Ausblicke als reproduzierte Bilder zu erkennen, die im Gegensatz zur realen Architektur stehen. Auf den ersten Blick wie laienhafte Zufallsprodukte wirkend, erweisen sie sich in ihrer Kombination von Ausblick, Fensterrahmung und Umraum (wie der Spiegelung der Stadtlandschaft im Glas des Bilderrahmens) als sehr kalkulierte Bildkompositionen in der Tradition romantischer Fensterbilder, die Innen und Außen, Nähe und Ferne unvermittelt nebeneinander setzen. Durch die Übertragung dieser Bilder in den fensterlosen Trakt tritt dieses bildimmanente Verhältnis zwischen Innen und Außen auch auf der konkreten räumlichen Ebene als bestimmend hervor: Die Ausblike bilden ein Gegengewicht zur Abgeschlossenheit des Korridors, aber weniger als Ersatz oder Kompensation, wie dies z. B. bei der trivialen Phototapete der Fall ist, sondern als potentielle Alternative bzw. Vorstellung, die den fehlenden Bezug zur Außenwelt als Mangel bewußt macht.

Dadurch daß die Türen als Bildträger fungieren, wird das zweidimensionale Bild zudem zum Teil einer beweglichen Skulptur und muß so einmal mehr unter räumlichen Kategorien erörtert werden. Seine Wirkung hängt davon ab, ob die Tür geöffnet oder geschlossen ist. In geöffnetem Zustand sind die Ausblike zerteilt: Zu beiden Seiten der Tür bleiben jeweils fragmentarische Streifen stehen, denen, aus dem Zusammenhang gerissen, eine formalabstrakte Wertigkeit zuwächst. Zusätzliche Komplexität gewinnt die Situation dadurch, daß ein Ineinander der Ausblicke stattfindet, insofern man durch eine Türöffnung auf die jeweils andere geöffnete Tür gegenüber blickt. Die realen Ausblicke nach Osten und Westen, die man vom vierten Stock aus nur nacheinander gewinnen konnte, werden als Bilder im Sinne simultaner Mehransichtigkeit visuell miteinander verschränkt, wodurch die strenge Ausrichtung des Flures auf zwei entgegengesetzte Pole hin unterlaufen wird.

Schließen sich die Türen, wie dies automatisch bei Feueralarm der Fall ist, schließen sich auch die Bilder. In diesem Fall werden die Türen wie die Wände zu festen Begrenzungen des jeweils abgetrennten Traktes. Dieser erhält durch das erst jetzt in seiner Kontinuität sichtbare, "geschlossene" Bild der Fensterwand nicht nur materiell, sondern auch visuell einen adäquaten Abschluß, der auf den Bildraum bezogen allerdings durch das sich im Kontext leichter erschließende Fenster durchlässig scheint. Die bei geöffnetem Zustand der Türen verwirrende Raumirritation wird ein Stück weit gemindert, um ihrerseits auf der Ebene der Abbildung wieder aufgenommen zu werden. Können die Türen nicht mehr geöffnet werden, so ist dies Zeichen von Feuergefahr, aber auch Bilder, die geschlossen bleiben, stellen auf künstlerischer Ebene ein Problem dar: Der "Zugang" des Betrachters zur Rauminstallation wäre unterbunden und damit die für Anna Tretter so wichtige, ihr Werk konstituierende Offenheit des Raumes gestört.

Die zweite raumverändernde Arbeit setzt an der Wand an, die den Abschluß des Korridors bildet. Sie wurde schwarz gestrichen und mit einer Glasscheibe versehen. Durch diesen simplen aber folgenreichen Eingriff findet eine selbstreferentielle Raumerweiterung statt, insofern der Korridor sich gespiegelt zunächst fast endlos fortzusetzen scheint. (Erst ab einem gewissen Punkt erkennt der sich nähernde Betrachter in der Konfrontation mit der eigenen Person den Verdoppelungseffekt.) Solchermaßen gestreckt bzw. zurückgeworfen und verdüstert wirkt der Raumschlauch um so erdrückender, so daß der ohnehin gegebene Kontrast zu den Ausbliken der Feuertüren, die ebenfalls gespiegelt werden, noch stärker und wirkungsvoller ausfällt.
Mit diesen beiden Arbeiten korrespondiert diejenige im Pausenraum, der an den Flur anschließt und im Unterschied zu diesem vom Tageslicht beleuchtet wird, das durch eine mehrfach unterteilte Fensterfront einfällt. Auch hier wird mit den Mitteln der Spiegelung Raum verändert, und zwar mit Hilfe eines durch Stahlhalterungen vor die Wand montierten Spionspiegels. Damit wird in einem letzten Schritt der in diesem Fall tatsächliche, reale Fensterausblick- eine geschlossene rostbraune Wellblechfassade ins Spiel gebracht, wodurch die Außenwelt ungleich direkter als bisher einbezogen wird. Die Künstlerin selbst weist darauf hin, daß dieses nüchterne Motiv der Halle und der Objektivität fördende Blick aus der Distanz des gegenüberliegenden Gebäudes an Photographien der Düsseldorfer Schule um Bernd und Hilla Becher erinnert und damit auch die Außenwelt zum photographischem Abbild transformierbar erscheint.

Als entscheidend für die Raumwirkung erweist sich, daß der Spiegel, wenn auch nur geringfügig, von der Wandebene abweicht, und zwar in einem Winkel von 6*. Hierdurch bedingt, erscheint der Raum in der Spiegelung leicht verrückt, da Spiegel- und Wandebene nicht wie gewohnt zur Deckung kommen, sondern entgegen der Sehgewohnheit auseinandertreten. Der Spiegel profiliert sich durch diese Inkongruenz als eigenständige Raumebene und gewinnt als in den Raum vorstoßendes Objekt auch plastische Präsenz. Er wird von einem breiten, gelben Streifen phosphoreszierender Zinksulfidfarbe hinterfangen, der in seiner Länge über den Spiegel hinausreicht: Die Bemalung zieht sich von der Raumecke bis zum Rahmen der ersten Tür, auf die der Streifen auch in seiner oberen Begrenzungslinie abgestimmt ist. Über den Raum hinausgreifend, markiert er zusätzlich das durch die Eingangswand des Pausenraums abgetrennte Wandstück im Flur, wodurch die Kontinuität der fortlaufenden Wand gegenüber den Räumen betont und das Werk im Pausenraum gewissermaßen angekündigt wird. Dem Spiegel verwandt, wird auch hier das einfallende Licht genutzt, und zwar im Sinne der phosphoreszierenden Eigenschaft des Pigments, die sich erst nachts, bei fehlendem Tageslicht, offenbart. Bei Dunkelheit werden der dann leuchtende Farbstreifen und die so erhellte Spiegelinstallation ihrerseits vom Fenster nach außen gespiegelt. Durch die Schwarzlichtröhren kann der Betrachter bereits tagsüber in dem dämmrigen Eckraum zwischen Wand und Spiegel das Leuchten der Zinksulfidfarbe wahrnehmen, das auch durch das Glas des speziellen Spiegels erkennbar ist. Das Außerhalb des Raumes Liegende wird somit nicht nur mit Hilfe des Spiegels und der Leuchtfarbe nach Innen geholt, sondern verbindet sich zudem optisch untrennbar mit der Ansicht der Wand. Die besondere Eigenschaft des Spionspiegels wird im Sinne einer Durchdringung von Außen- und Innenraum genutzt, eine Leitvorstellung, welche bereits die Bilder der Feuertüren prägte.

Alle drei Arbeiten zeigen Anna Tretter als eine Künstlerin, die auf unterschiedlichen Ebenen virtuos mit den Eigenschaften des Raumes operiert, den sie als etwas nach außen hin Offenes, in stetigem Wandel Begriffenes versteht. Insofern stellte die Situation des in sich abgeschlossenen Flures eine besondere Herausforderung für sie dar, der sie mit einer geradezu barocken Freude an Täuschung, Irritation und Verunklärung begegnet. Ziel ist bei aller Virtualität jedoch nie Raumillusion, sondern immer die Sensibilisierung für das letzlich unbegreifliche Phänomen Raum, dem nachzuspüren zugleich die Überprüfung des eigenen Standpunktes beinhaltet.

Dr. Felix Reuße