Katalogtext zum Ausstellungsprojekt, Galeria Awangarda, BWA Breslau und Galeria Stara, Lublin, PL 2000

Anna Tretters Bilderfolge zu 'Kleine Häuser' - Ein visuelles 'road movie'

 

An einem sonnigen Tag beginnt eine Reise ins Ungewisse über viele Etappen in einem Land, das scheinbar außerhalb, am Rand unserer Zeit sich befindet.
Anna Tretters Einladung zu diesem Gang in ein unbekanntes Land bin ich zum ersten Mal 'via' CD-Rom gefolgt. Mit dem ersten 'Klick' stand ich auf freiem Feld vor einer kleinen Wellblechhütte, die als Bushaltestelle fungierte. Vor der üppigen, satten Vegetation nahm sich das Zeichen menschlicher Zivilisation recht kümmerlich aus. Um die Reise weiterzuführen, 'klickte' ich mich weiter, von Bild zu Bild, von Station zu Station und wurde immer neugieriger wie es weiterging, wie wohl die nächste Etappe aussehen würde. Am nächsten Halt stehen einige Menschen, wie verloren, vor einer heruntergekommenenen Haltestelle aus Stein und Blech. Dann erwartet mich ein kleiner Betonkasten mit herausgeschlagenen Scheiben, graffitibesudelt. Hier der erste schriftliche Hinweis im Bild: Wir scheinen uns geographisch irgendwo im Osten zu bewegen. Dann markiert ein einsames blaues Schild in freier Landschaft die Stelle, an der Menschen aus einem Bus steigen, dessen veraltete Bauweise fremdartig anmutet, aus einer anderen Zeit gekommen zu sein scheint. Die nächsten Stationen sind menschenleer, und die Wellblechhütten in verschiedenen Stadien des Zerfalls wechseln sich ab mit den bloßen Bus-Stop-Schildern, irgendwo am Rand einer Landstraße, scheinbar in un- oder spärlich bewohnter Gegend.

Von Etappe zu Etappe entsteht langsam eine 'Seh-sucht': Wie sieht das nächste Wartehäuschen aus? Allmählich gibt es Wiedererkennungseffekte, man erkennt 'Bautypen':  Das Wellblech-Modell, das aus Stein gemauerte mit Gitter und Holzdach, das Neo-Geo-Zement Modell oder nur das blaue Schild und plötzlich das rote Wunder, in einem Rahmen aus rotem Eisen große trübe transparente Plastik-Fenster. War die Umgebung bisher freie Natur oder Felder, so betritt man jetzt eine bebaute Zone, vor etwas heruntergekommenen, auf eine Entstehung in den späten 60er, Anfang der 70er Jahren verweisende Bauten: eine Einkaufszone? Der Beschilderung kann man nun entnehmen, daß man sich in Polen befindet. Die Reise geht weiter, und neue Häuschen-Typen treten auf: aus gelbgrünen Wellblech, aus neuem gefaltetem Blech oder glatt gemauerte Betonwürfel lösen sich ab, vereinsamt in agrarer Einöde oder am Rande von kleinstädtisch anmutenden Besiedelungen. Zuweilen steht nur ein Schild einsam auf einer Landstraße. Wenn, ab und an, Menschen sich in und an den Haltestellen aufhalten, ist man überrascht über die Maßstabverschiebung, leer sahen sie größer oder kleiner aus. Je weiter die Reise geht, umso aufmerksamer wird man, registriert jedes Zeichen: die gemauerten und gebauten haben geradezu einen Bauhaus-Chic und besitzen eigentlich einfache, aber schöne, klare Proportionen. Der oder die Entwerfer hat/haben sich offenbar Gedanken gemacht über das Verhältnis Fenster-Fläche, Zutritt, Dach etc. Man hat sich beim Material um Abwechslung in der Verarbeitung bemüht, die Mauerstücke sind aufwendig gearbeitet, in immer wieder neuen Mustern wurden die Fugen zwischen den Steinen oder Steinplatten verlegt. Nach einer Weile übersieht man den Zerstörungs- und Verfallszustand, alle haben eingeschlagene Scheiben, sind besudelt, heruntergekommen, dennoch bleibt der ursprüngliche Gestaltungswille sichtbar.

Man kann die kleinen Häuser geradezu in Kategorien, Familien einteilen: das Kirchenähnliche, das Neo-Bauhaus-Modell, das postmodern Geschwungene, das Rustikale etc. ..., aber nie sind zwei identisch ... Bei dieser visuellen  Erkundung vergißt man zunächst ganz zu fragen, wohin die Reise eigentlich geht. Nur sehr selten ist ein Orts- oder Bezeichnungschild an der Haltstelle zu erkennen, nur einmal, an einer schönen Altstadt-Station liest man 'Muzeum'. Vereinzelt sieht man Verkehr, das Tempo der Reise erscheint gemächlich, die Zeit, der Raum zwischen den Stationen dehnen sich. Weder Richtung noch Ziel sind erkennbar, je weiter es geht, stellt sich immer öfter ein 'déjà vu`- Effekt ein, weil man allmählich mit der Architektur der Häuschen vertraut wird. Man beginnt sie wie 'land art'-Objekte zu genießen, plastische Objekte, Spolien von Gestaltungswillen in der freien Natur, die aber auch von Zeichen menschlicher Eingriffe (Maste, Ackerbau, Häuser in der Ferne) geprägt ist. Die Veränderungen auf der Strecke, mal auf freiem Feld, mal am Rande einer Bebauung rhythmisieren die Reise. Man achtet auf das Licht-Schattenspiel an den Wartestellen, auf ihre meist isolierte Umgebung. In ihrer frontalen bildeinnehmenden Präsentation lassen sie das 'Warten auf' physisch spürbar werden. Besonders die menschenleeren Häuschen schauen einem geradezu aus ihren großen, oft vergittert wirkenden Öffungen an. Ihre eingeschlagenen Scheiben und ihre bekritzelten Wände erzählen von Langeweile und Unmut, die sich entladen haben. Wie ein Anthropologe beginnt man Geschichten zu spinnen, Spuren zu deuten. Wie viele Menschen mögen hier - wie oft – wie lange - gewartet haben? Es sind Speicher geschichteter Lebenszeit, Zeitskulpturen, sie horten soviele vergangene sichtbare und unsichtbare Spuren.

"Woher kommen wir? Wohin gehen wir?" fragte Gauguin dereinst auf einem seiner Bilder. Die Isolierung der Wartehäuschen führt dazu, daß wir ihnen unsere ganze Aufmerksamkeit schenken, alles sehen, registrieren, wahrnehmen und zu deuten beginnen.
Seit Dan Grahams 'american houses', Bernd und Hilla Bechers photographischen Inventaren, der Zeichen im Freien der Land Art, der Sensibilisierung unserer Sinne für Strukturen und räumliche Verhältnisse in der sog. 'minimal art' können wir nicht umhin 'ästhetisch kodiert' auf unsere Umgebung zu schauen. Sie schaut zurück und will gelesen werden. Für ihre gemächliche Reise durch Polen, fehlen doch jegliche Geschwindigkeits- und Zeitangaben - es ist immer sonnig, hell lichter Tag, bedient sich Anna Tretter dieser unserer Prägung, führt sie aber auch ad absurdum. Sie dekliniert nicht nur Formenspiele, denn ihre Bilder erzählen uns  zugleich viele Geschichten über den Zustand des Landes, seiner Menschen, ihren Gestaltungswillen.

Mehr und mehr wächst die Gewissheit: 'der Weg ist das Ziel', dennoch möchte man mehr wissen. Fragt man Anna Tretter nach dem Ziel der Reise, dann erfährt man, daß sie eine Karte der Kunstorte in Polen entworfen hat und all die Orte aufsuchte an denen heute aktiv Kunst betrieben wird. Obwohl dieses Land eine sehr lebendige Kunstszene hat, ist davon in Europa wenig bekannt. Polens Landkarte ist für die heutige Kunstwelt weitgehend leer, unbeschrieben, inexistent. Mit ihrem visuellen 'road movie' beginnt Anna Tretter eine Spurensicherung, entwirft Wege des Erkundens, der Begegnung. Sie hat das Land er-fahren, in dessen eigenen, oft umständlichen, langwierigen Tempo, viele Menschen reisen dort mit dem Bus.

Um diese Erkundung weiterzugeben, hat sie die Wartehäuschen am Rande des Weges gesammelt und wird, an ihnen entlang, eine Bilderstrecke entwickeln, indem sie jeweils das Bild der vorausgehenden Station in der ihr folgenden anbringt. An und mit den Bildern kann eine vielschichtige Reise unternommen werden, zum einen die rein ästhetische beim Sammeln nahezu serieller Raum-Zeit-Skulpturen, zum anderen die anthropologische in der Erkundung und dann nicht zuletzt die künstlerische: in der Entdeckung all der Orte, die, obwohl sie so unscheinbar wirken, sich als Stationen des heutigen Kunstlebens in Polen entpuppen.

Die 'Poesie des Alltags', die die von Anna Tretter gesammelten Wartehäuschen auch ausstrahlen ist eine ambivalente, eine schmerzhafte, denn das, was wir ihnen als ästhetischen Reiz abgewinnen, kundet zugleich von der Mühsal des Alltags, von Aggression, Ortlosigkeit, Unbehaustsein. Der französische Kulturanthropologe Marc Augé hat für die weitverbreiteten, standartisierten, allerwelts gestalteten öffentliche Plätze, Unterführungen etc. den Begriff der 'Unorte' geprägt. Orte ohne eigene Geschichte, Gesichter und Identität. Jeder kennt das Gefühl, sich in einer sog. verkehrsberuhigten Fußgängerzone an den ewig gleichen standartisierten Geschäftsfilialen entlang zu bewegen, nicht wissend, wo man sich eigentlich befindet. Bushaltestellen, die ja meistens Einheitsmodelle sind, gehören zu dieser genormten Monotonie. Die Häuschen, die Anna Tretters Aufmerksamkeit in Polen erregten, entsprechen auch gewissen Typen, ihre Positionierung aber und ihre unterschiedlichen Stadien des Zerfallen- und Zerstörtseins haben ihnen aber je ein eigenes Gesicht gegeben, erzählen je eine eigene Geschichte.

Indem Anna Tretter sich dafür entschied, die Reise im Hochsommer bei blühender Vegetation und strahlendem Licht anzutreten, verleiht sie ihr eine positive, optimistische Stimmung, die einladend wirkt. Läßt man sich auf die geweckte Seh-sucht ein, beginnt eine scheinbar bescheidene Reise, die sich dann als vielfältige Erkundung entpuppt.


Prof. Dr. Anne-Marie Bonnet: „Le invitation au voyage“ Anna Tretters Bilderfolge zu „Kleine Häuser“ Ein visuelles „road movie“, 2000
Cd-Rom,  Booklet: 24 Seiten
Sprache: deutsch – polnisch
Auflage: 300 Exemplare
BWA Breslau - Galeria Awangarda und Galeria Stara in Lublin, 2000, PL