14 Photographische Raumnotizen von Anna Tretter

 

Augen-Blicke
Aus schmalen rechteckigen, fenstergleichen scheibenlosen Öffnungen wird der Blick über Gänge, durch weitere Öffnungen und Räume über Schatten- und Lichtzonen geführt, bis er einen kleinen Ausschnitt mit Bäumen und dem fernen Horizont erhaschen kann, oder er verliert sich in einem Labyrinth aus verschachtelten Raumeinsichten. Blättert man durch die Mappe, so weitet er sich, wird ihm doch mehr und mehr Raum gewährt. Die Art, auf die menschenleeren und kahlen, asketischen Architekturdetails zu schauen, entspricht nicht immer der Weise, in der sie aufgenommen wurden. In ihren Architekturaufnahmen konstelliert Anna Tretter die Räume neu, modelliert sie gleichsam architektonisch auch auf neuartige Weise.

‚Modelliertes Sehen‘
Im Französischen nennt man jenen Ausschnitt der Wirklichkeit, den die Kamera festhält, ‚cadrage’‚ ‚Rahmung’. Anna Tretters schwarz-weiße Architekturaufnahmen lassen dies den Betrachter deutlich spüren, erinnern sie doch daran, dass die photographische Optik den Blick leitet und konstruiert. Keineswegs bilden Photographien die Welt einfach ab, sie interpretieren und konstruieren sie vielmehr. Tretters architektonische Impressionen sind ganz und gar von bildhauerischem Sehen geprägt, das räumliche Potenziale wahrnehmend gestaltet. Sehend und zeigend interpretiert die Künstlerin Baulichkeiten und Räume; diese offenbaren ihre inneren Strukturen und entfalten immer neue konstruktivistische, ja suprematistische pikturale Eigenschaften. Die lenkenden Eingriffe sind zwar minimal und elementar, entfalten aber eine poetische, zuweilen surreale Unermesslichkeit. Das Interesse gilt nicht dem Pittoresken oder Spektakulären, eher dem Beiläufigen, Lapidaren, dessen räumliche Poesie Anna Tretters Zugriff offenlegt. Räume werden nicht nur modelliert, sondern entwickeln in Tretters Interpretation selbst modellierende Qualitäten. Die Spannung aus Zufall und Beiläufigkeit in der Entstehung und die geradezu mathematisch-geometrische, ja konstruktivistische Einprägsamkeit im Ergebnis erinnern an Piet Mondrians Credo: „Konstruktion und Abstraktion basieren auf Intuition.“

Ein-, Aus- und Durchblicke sammeln
Anna Tretter sammelt auf Wanderungen und Spaziergängen Ein-, Aus-, Durch- und Anblicke, Durchsichten in und aus Steinbauten, auf Mauern und architektonische Konstruktionen, wie andere Blumen, Gräser oder Blüten zusammen tragen, nennt sie „Schnappschüsse“ und klebte sie zunächst in ‚cahiers’, Hefte. „Ich begebe mich auf die Reise und fokussiere, was ich als bildhauerischen Anspruch in mir trage, was meinen skulpturalen Vorstellungen entspricht, in die mein Wissen um das, was Raum sein könnte, einfließt. Abgelichtet, um sie für eventuelle Rauminstallationen zu erinnern, ready mades ... photographische Raumnotizen.“ Der Blick schweift umher und entdeckt Interessantes, oder deckt er es auf? Picasso pflegte zu sagen: „Ich suche nicht, ich finde!“ Auswählen heißt Erkennen. In ihren sogenannten „Raumnotizen“ bietet uns Anna Tretter einen intimen Einblick in ihr bildhauerisches Vorgehen, liefert gleichsam einen Schlüssel zum Verständnis ihres Werkes. Beiläufig und doch wesentlich, offenbaren die Bilder das plastische Konzept der Künstlerin, dem eine innige Verflechtung zwischen Lebensweltlichkeit und Abstraktion, Zufall und Konstruktion eigen ist. Raum, photographisch modelliert durch Blickpunkte sowie Licht- und Schattenspiele, ist hier plastisches Material.

Räume sehen, zeigen, denken, fühlen
Raum ist nicht Ort, nicht Platz. Er kann Leere bedeuten, aber auch Zwischenraum oder Freiraum, gar Spielraum. Der Raum lebt von seinen Grenzen, die zu stecken existenziell ist. Raum als Ort des Möglichen, des sich Findens und Befindens. Nicht nur Architekten und Künstler, auch Philosophen haben sich des Raumes angenommen – man denke nur an Gaston Bachelard mit seiner ‚Poetik des Raumes‘, Henri Lefebvre und seine ‚Konstruktion des Raumes’ oder Heidegger, dessen Kategorie des ‚Ein-Räumens’ die existenzielle, lebensweltliche Dimension des Raumes vielleicht am markantesten reflektiert. Räume haben vielfache Aufgaben: ästhetische, architektonische, kulturelle, psychische, soziale, ökonomische, politische, um die wichtigsten zu nennen. Neben realen Räumen gibt es Denkräume oder virtuelle Räume. In letzter Zeit war viel vom ‚Schwinden des privaten Raumes‘ und von der ‚Ökonomisierung des öffentlichen Raumes‘ die Rede. Auch die Erkenntnis, die spezifische historische Identität bestimmter Räume verloren zu haben, die man dann als ‚Nicht-Orte‘ deklarierte, hat eine neues Bewusstsein für die Kategorie ‚Raum‘ geschaffen.

Raum ist hier Medium und Material, Ausgangspunkt und Ziel zugleich. Stets ist er Durchgang, Weg, Öffnung, choreographiert er Licht und Schatten, Nähe und Ferne. In einer Zeit, in der virtuelle Räume, z.B. im Internet, immer realer und private, eigene oder imaginäre Räume immer mehr gefährdet werden, gemahnen Tretters raumplastische Reflexionen an die kreativen Potenziale eines wachen Blicks auf die Welt. Ihre visuellen Raumplastiken offenbaren eine konstruktiv-analytische Poetik des Raumes, laden ein zu gedanklichem Erwandern, öffnen ästhetische Perspektiven und etablieren zugleich eine eigenwillige Architekturphotographie.

Prof. Dr. Anne-Marie Bonnet