Katalogtext: Werner Meyer, Ausstellung Der Berg Heidelberger Kunstverein, 2002


Die Videoarbeit von Anna Tretter lässt den Betrachter Bergwelten aus dem Flugzeug, aus der modernen „Vogelperspektive“ mitvollziehen. Die Stecke führt von Europa bis ans andere Ende der Erdkugel, nach Kapstadt in Südafrika. Zwischen Himmel und Erde bilden die Wolken eine Ebene, in der Auftauchen und Verschwinden, Schärfe der Konturen der Berge und Vernebelung des Blicks sich durchdringen. Für einen Moment könnte man sich in dieser noch höheren und globaleren Sicht an Caspar David Friedrichs bürgerlichen Revolutionär auf dem Berggipfel über den Wolken erinnern. Alles ist im Fluß, in Bewegung.

Am Ende erscheinen die Wolken über dem Tafelberg und fallen über seine Kante herunter, auf den Grund, von dem nun die Kamera nach oben sieht. Die Wolken kommen an, über dem Berg. In einem eindrucksvollen Naturschauspiel fallen sie über ihn herunter. In den verschiedenen Blickwinkeln dieser letzten Einstellung, in der Wiederholung entsteht für Momente Stillstand. Die Landung bleibt offen, obwohl die Kamera bereits auf der Erde einen festen Fuß gefunden hat.

André Werners „IV, 1 Magni dominator poli, tam lentus audis scelera? tam lentus vides? – für großes Orchester“, 1995, (Shakespeares Titus Andronicus: So langsam bist du, Herrscher des Alls, die Verbrechen zu hören? so langsam sie zu sehen?) schafft eine ebenso weite Raumerfahrung und eine Spur zur Bedeutung des Sehens, eine emotionale Aufladung des Sehens mit einer inhaltlichen Richtung, wenn man dem Hinweis des Titels in Gedanken folgt.

In ihren neueren Werken durchmißt Anna Tretter immer wieder geographische Räume, lenkt den Blick auf das Reisen entlang einer Folge von Orten, z.B. „Die kleinen Häuser der Bushaltestellen“ in Polen (2001/02). Die Bewegung gewinnt Sinn in Orientierungen, hier nun in den Gipfeln der Berge, die aus dem Wolkenmeer herausragen. Das Interesse der Künstlerin gilt der Sensibilisierung für räumliches Empfinden. Der Raum ist ein realer, und zugleich ein gedanklicher, in dem der Mythos der Berge seine eigene Dimension gewinnt. In ihren Videoinstallationen spiegeln sich Zeiterfahrungen in wechselnden Perspektiven und Medien, wie hier die Bilder der Kamera und der Musik.

Werner Meyer, Kunsthalle Göppingen