Was ist Kunst? Brauchen wir Kunst? Ist Kunst ein schön add-on für unser zivilisiertes Leben? Dieser kleine Essay bringt ein paar Gedanken zur kunstistrichtig Edition von Anna Tretter zusammen und erzählt ein Beispiel, wozu die Linie der Künstlerin dienen kann.

Mindset-Erweiterung durch Kunst: Die Linie von Anna Tretter
https://www.youtube.com/watch?v=pNy5JgQj2Bs

The drawing of line was made on an electronic tablet in train from Prague to Dresden, on 6.10. 2005, on the way to the Colloquium for <The Space in the Musik – the Musik in the (Public-) Space>, Hellerau European Centrum of Arts, Dresden.
Journey time: 2:29h, the distance: 191 km. The digital print out of line/graphic version is 55m long.

line druck

line manja 2Live Performance, Anna Tretter, Videoscore, Manja Ristic (music interpretation),<Sound & Save Festival>, Nolit Warehouse, Belgrade, in November 2006. Manja Ristic created a live music interpretation for violin of this electronic score.

The main aim we were trying to archive was the integration of the audio-visual content and the application of the direct response effect. Using all possible means of the technical aspect of an instrument. Line was a live presentation of decoding graphical notation. Inspiring video in the form of a minutes loop was translated into virtual violin sequences that were following graphical motifs. This way of “decoding” an abstract notation produced a broad range of atypical sounds, which opened a clear insight into the “natural” effects and sound capacity of a classical instrument. The performer was using a ZOOM 8080 sound processor as a minimal electronic device for volume and colour control.
 … Also the drawings notes, records of travels, in the car, in the aircraft, in the train, from place to place; simultaneously, they are crystallizations of drawing as a mobile and stirring process, a passage between riding and experiencing, transporting the excitement of uncertainty, the suspense, an entering into the unknown, belonging to every journey.
Anna Tretter is holding on her thighs the sketch-block or any found paper like the sickness bags which are in the front pocket of an airplane seat, very relaxed she is holding the pencil, which is scanning the shakings, the rollings, the impassabilities unfolding to the unexpected, the other that flashes in the aesthetical act of any discovering drawing. The sheets transport with striking self-evidence a presentiment of the unforeseeable, grounding the drawing process as it bases the being on the way. The drawings are experienced sovereign moments, with them, by them the transparent configurations, the interweaved lines, the floating clusters, condensations, crossings, loosenings originate.  In wonderful mobility the images jump from paper to paper, scattering themselves, gathering, as if the lines emanate from the world, from the very presence of the earth. The time of the voyage with its moments of intensive sensory perception intertwine with something more remote, something more impersonal. The drawings are reactions to and resonance of being on the road, a letting happen, a listening to the unknown. The drawing paper so to say turns into a strange region, animated, inhabited by the drawing, creating space, opening space.

 

Eine Linie, die Anna Tretter gezeichnet – oder gescannt / aufgenommen hat auf einem elektronischen Zeichenbrett, eine Linie, die einer ihrer Reisen von Prag nach Dresden folgt, und die ganz abstrakt eben diesem Rhythmus des Unterwegs, des sich Einlassens auf das Unbekannte, das in jeder Reise steckt,  nachvollzieht. Die Linie hält eine Spannung, es gibt Kreuzungen, Bündelungen, schwebende Knäuel, Verdichtungen, dann löst sich die Zeichnung wieder in ein gedehntes Lineament und so folgt sie den Unwägbarkeiten jeder Fahrt: eine Passage zwischen Erfahren und Fahren. Die Linie ist eine mediale Erweiterung von Tretters Zeichnungsserien, wo sie ebenso ganz nonchalant beim Unterwegssein im Auto, im Zug oder im Flugzeug ein Blatt Papier oder einen vorgefundenen Zettel auf den Knien hält und die Bewegung / das Bewegtwerden selbst protokolliert und die Zeichnung entstehen lässt durch das, das ja sowieso da ist, den Vibrationen der Hand, die die Stockungen, die Erschütterungen -  und dies ist hier ganz wörtlich zu nehmen – aufnimmt, dem Unterwegssein mit seinen Stauungen, den Knotenpunkten, dem Schlingern folgt. Es entsteht keine Zeichnung als Porträt, sondern eine Aufzeichnung, ein Notat des sich Bewegens selbst: gleichsam Zeichnung als Automobil.
Die Zeichnung und auch die elektronische Zeichnung, die im Loop projiziert wird, ist sozusagen eine abstraktes Tagebuch dessen, was wir erfahren, des sich Aussetzens, das ja zutiefst mit dem Reisen zu tun hat und zu tun haben soll. In ihrer Installation hier kommt aber noch etwas anderes hinzu:

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Bei einem Festival in Belgrad, in Serbien, im Dezember 2006, wurde diese Zeichnung, wurde diese Linie in Musik übersetzt von einer jungen serbischen Violinistin. Manja Ristic hat die Bewegung der Zeichen-Hand in das Medium der Musik transformiert, sie ist dem Lineament der Zeichnung, ihrem Rhythmus, ihrer Spannung mit ihrem Instrument gefolgt, hat diese in Töne übertragen, life, nach wenigen Proben und so verweben sich in der Präsentation verschiedene Schichten. Der Raum Belgrad, die Musikerin, die Klänge, die sie gefunden hat, sind hier anwesend, zugleich mit der Zeichnung, entstanden zwischen Prag und Dresden. Und dieses Übereinanderblenden/schichten von verschiedenen Erfahrungen, das Bündeln, die Neumodulation von Ereignissen scheint mir sehr symptomatisch für die Arbeiten von Anna Tretter, die oft Vorgefundenes, Erinnertes mit dem Jetzt verweben, mit einer aktuellen Situation, die sie wagemutig aufgreift.

Textauszug: Dr. Dorothée Bauerle-Willert, Auszug aus der Eröffnungsrede im Kunstverein Schwäbisch Hall e.V. Galerie am Markt, 2007
Original in deutsch Englische Übersetzung

Semitransparente Projektionsfläche, Digitalprint (gesamt, verkleinert) im Glasrahmen 85x112,5cm

Dokumentationsfotos: Dr. Rainer Burkhardt

VideoLine
Performance
Line-Player by Jakub Pišek